Jenseits der Abschiebung: Wenn das Bleiberecht bedingt wird

Willkommen zu einer neuen Folge des Podcasts Integration oder ReImmigration.
Mein Name ist Fabio Loscerbo. Ich bin italienischer Rechtsanwalt und bei der Europäischen Union registrierter Lobbyist im Bereich Migrations- und Asylrecht.

Heute möchte ich mich direkt an ein deutsches Publikum wenden und eine Frage aufgreifen, die im deutschen Aufenthaltsrecht zunehmend an Bedeutung gewinnt: Ist das Bleiberecht automatisch – oder ist es das Ergebnis einer rechtlich bedingten Prüfung?

In Deutschland wird das Aufenthaltsrecht traditionell entlang einer klaren Linie gedacht. Entweder besteht ein rechtmäßiger Aufenthalt, oder der Staat ist befugt, den Aufenthalt zu beenden, insbesondere durch Abschiebung. Diese Logik ist stark verwaltungsrechtlich geprägt und wird zugleich durch die verwaltungsgerichtliche Kontrolle und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit begrenzt.

Was dabei häufig unausgesprochen bleibt, ist, dass sich im europäischen Rechtsraum eine weitergehende Logik herausbildet: Der Aufenthalt wird zunehmend als bedingtes rechtliches Ergebnis verstanden, nicht als automatischer Status.

Die jüngere italienische Rechtsprechung, insbesondere Entscheidungen von Gerichten Ende des Jahres 2025, verdeutlicht diese Entwicklung sehr klar. Die Gerichte stellen nicht primär auf die formale Rechtmäßigkeit der Einreise ab. Sie stellen eine andere Frage: Ist die Aufenthaltsbeendigung angesichts der konkreten Lebensverhältnisse rechtlich verhältnismäßig?

Der Ausgangspunkt ist auch aus deutscher Sicht vertraut: Die bloße Anwesenheit im Bundesgebiet begründet kein Bleiberecht. Weder Zeit noch faktische Duldung reichen aus. Entscheidend ist, ob eine Abschiebung einen unverhältnismäßigen Eingriff in das durch Artikel 8 EMRK geschützte Privat- und Familienleben darstellen würde.

Die Gerichte prüfen daher konkrete, überprüfbare Kriterien. Dazu gehören eine stabile Erwerbstätigkeit, wirtschaftliche Selbstständigkeit, gesicherter Wohnraum, soziale und familiäre Bindungen, sprachliche Integration sowie das Fehlen von Gefahren für die öffentliche Sicherheit. Es gibt keine starren zeitlichen Schwellen. Jeder Fall wird individuell und ganzheitlich bewertet.

Fällt diese Prüfung zugunsten der betroffenen Person aus, ist die staatliche Befugnis zur Aufenthaltsbeendigung rechtlich begrenzt.
Fällt sie negativ aus, bleibt die Abschiebung rechtlich zulässig.

Das ist der Kern des bedingten Bleiberechts.

Im italienischen Recht wird diese Logik über ein Instrument umgesetzt, das als protezione complementare bezeichnet wird. Für das deutsche Publikum ist weniger die Bezeichnung relevant als die Funktion. Es handelt sich weder um Asyl noch um eine rein humanitäre Ermessensentscheidung, sondern um eine rechtsgebundene Aufenthaltsverfestigung, ausgelöst durch eine richterliche Grundrechtsprüfung.

Ein zentraler Punkt ist dabei: Sobald die Voraussetzungen festgestellt sind, wird der Aufenthaltstitel nicht als freiwillige Entscheidung der Verwaltung verstanden. Er gilt als zwingende rechtliche Folge der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Integration ist hier kein politisches Ziel, sondern ein rechtlich relevanter Sachverhalt.

Diese Entwicklung ist auch für den deutschen Diskurs von Bedeutung. Sie zeigt, dass staatliche Steuerungsfähigkeit und Grundrechtsschutz kein Widerspruch sind. Im Gegenteil: Das Aufenthaltsrecht wird umso konsistenter, je klarer definiert ist, unter welchen Bedingungen ein Bleiberecht entsteht – und unter welchen nicht.

Genau hier setzt das Paradigma Integration oder ReImmigration an. Nicht als politische Parole, sondern als Beschreibung des geltenden Rechts in Bewegung. Integration wird geprüft. Wird sie festgestellt, entstehen rechtliche Konsequenzen. Wird sie nicht festgestellt, bleibt die Aufenthaltsbeendigung Teil des Systems.

Was sich derzeit in den europäischen Gerichten abzeichnet, ist kein Kontrollverlust, sondern eine Präzisierung des Rechts. Der Aufenthalt wird nicht toleriert, sondern begründet – oder er wird rechtlich beendet.

Vielen Dank, dass Sie diese Folge des Podcasts Integration oder ReImmigration gehört haben.
Ich bin Fabio Loscerbo.
Bis zur nächsten Folge.

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